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Aus einer tiefen Nische in der Wand trat ein wachhabender Sturmowik mit erhobenem Beil hervor. »Kein Zutritt«, sagte er düster.

»Was verstehst du schon, Dummkopf!« sagte Rumata nachlässig und schob ihn mit der Hand zur Seite.

Er hörte, wie der Sturmowik hinter ihm unentschlossen mit den Füßen scharrte, und ertappte sich bei dem Gedanken, daß der beleidigende Tonfall und die nachlässigen Gesten bei ihm nun schon reflektorisch auftraten, daß er bereits den hochwohlgeborenen Flegel nicht mehr spielte, sondern daß er selber fast schon zu einem solchen Flegel geworden war. Er stellte sich dieses sein Verhalten auf der Erde vor und wurde sogleich von Scham und Übelkeit befallen. – Warum denn? Was ist denn mit mir vorgefallen? Wohin verschwand denn die seit frühester Kindheit eingepflanzte Achtung und das Vertrauen zu meinesgleichen, zu den Menschen, zu dem wunderbaren Wesen, das man »Mensch« nennt? Aber bei mir kommt ohnehin schon jede Hilfe zu spät, überkam es ihn mit Schrecken. Ich hasse sie doch wirklich und verachte sie … Kein Mitleid – nein, ich hasse und verachte sie. Wenn ich mir auch die Stumpfheit und Bestialität dieses Kerls da vor Augen führe, die sozialen Umstände und seine schauerliche Erziehung … Ich kann tun, was ich will, aber ich sehe jetzt ganz genau, das dies mein Feind ist, ein Feind all dessen, was mir teuer ist, der Feind meiner Freunde, ein Feind all dessen, was mir persönlich heilig ist. Und ich hasse ihn nicht nur theoretisch, nicht als einen »typischen Vertreter«, sondern ihn selbst, seine Person. Ich hasse seine speichelverschmierte Schnauze, den Geruch seines ungewaschenen Körpers, seinen blinden Glauben, seine Bosheit gegen alles, was über sexuelle Bedürfnisse und den Suff hinausgeht. Da scharrt er nun mit den Füßen, dieser Halbwüchsige, den vor einem halben Jahr noch sein dickwanstiger Vater verprügelte, um ihn mit solchen Methoden für den Handel mit wurmigem Mehl und schimmliger Marmelade auszubilden; da ächzt und stöhnt er, der vernagelte Dummkopf, und quält sich ab bei dem Versuch, sich an die Paragraphen der eingepaukten Ordnungen zu erinnern, und kann sich nicht entscheiden, ob er nun den edlen Don mit der Hacke erledigen, »Wache!« schreien oder bloß mit der Hand winken soll. So oder so wird keine Seele von etwas erfahren. Alles auf der Welt tut er mit einer Handbewegung ab, kehrt zurück in seine Nische, steckt sich ein Stück Kaurinde ins Maul, schmatzt und kaut wie eine satte Kuh und läßt den Speichel rinnen. Und nichts auf der Welt kann ihn interessieren, und an nichts auf der Welt will er denken. Denken, Gott behüte! Aber um wieviel besser ist denn unser Lichter Adler, Don Reba? Ja, natürlich, seine Psyche ist verwickelter, und seine Reflexe sind komplizierter, aber seine Gedanken sind diesem nach Ammoniak stinkenden Kerl und den labyrinthischen Verbrechen des Palasts sehr ähnlich, und er ist unaussprechlich niederträchtig – ein abscheulicher Verbrecher, eine gewissenlose Spinne. Ich bin hierhergekommen, um die Menschen zu lieben, ihnen bei ihrer Selbstentfaltung behilflich zu sein, damit sie den Himmel sehen. Nein, ich bin ein schlechter Kundschafter, dachte er betrübt. Ich bin ein untauglicher Historiker. Und wann bin ich denn in diesen Abgrund gefallen, von dem Don Kondor sprach? Hat denn ein Gott ein Recht auf irgendwelche Gefühle außer auf Mitleid?

In seinem Rücken ertönte ein eiliges Klopfen von Stiefeln im Gang. Rumata drehte sich um und faßte seine beiden Schwerter mit den Händen kreuzweise am Griff. Don Ripat kam zu ihm geeilt, eine entblößte Klinge in der Hand.

»Don Rumata, Don Rumata!« schrie er schon von weitem in heiserem Flüsterton.

Rumata ließ die Schwerter wieder los. Als er schon ganz nahe bei ihm war, blickte Don Ripat um sich und flüsterte ihm kaum hörbar ins Ohr:

»Ich suche Sie schon eine ganze Stunde. Waga Koleso ist im Palast! Er spricht mit Don Reba im lila Zimmer.« Rumata kniff eine Sekunde lang die Augen zusammen. Dann trat er vorsichtig einen Schritt zur Seite und sagte mit höflicher Verwunderung:

»Sie meinen doch nicht etwa den berühmten Räuberhauptmann? Der ist doch entweder längst hingerichtet oder existiert überhaupt nur in der Phantasie des Volks.« Der Leutnant leckte seine trockenen Lippen.

»Es gibt ihn … Er ist im Palast … Ich dachte, es wird Sie interessieren.«

»Mein bester Don Ripat«, sagte Rumata eindringlich. »Mich interessieren Gerüchte. Der Klatsch. Anekdoten … Das Leben ist so langweilig … Sie haben mich anscheinend nicht richtig verstanden …«

Der Leutnant blickte ihn mit verständnislosen Augen an. »Urteilen Sie doch selbst – was habe ich denn zu tun mit den unsauberen Beziehungen Don Rebas, den ich übrigens viel zu sehr schätze, als daß ich ihn verurteilen könnte? – Und dann, verzeihen Sie, ich bin in Eile … Eine Dame erwartet mich.«

Don Ripat leckte noch einmal seine Lippen, machte eine ungeschickte Verbeugung und ging seitlich ab. Rumata kam plötzlich ein glücklicher Gedanke.

»Übrigens, mein Freund«, rief er ihm wohlwollend nach, »wie gefiel Ihnen denn die kleine Intrige, die wir heute früh Don Reba gespielt haben?«

Don Ripat blieb bereitwillig stehen. »Wir sind äußerst befriedigt«, sagte er. »Nicht wahr, das war doch allerliebst?«

»Ganz prächtig war das! Die Führung der Grauen ist sehr froh darüber, daß Sie nun endlich ganz offen für uns Partei ergreifen. So ein kluger Mensch wie Sie, Don Rumata, und gibt sich mit Baronen ab, mit adeligen Ausgeburten …«

»Mein teurer Ripat!« sagte Rumata von oben herab und machte sich zum Weggehen bereit. »Sie vergessen anscheinend, daß von der Höhe meiner Herkunft herab überhaupt kein Unterschied ersichtlich ist zwischen dem König und Ihresgleichen. Auf Wiedersehen!« Zuversichtlichen Schrittes ging er durch die Korridore, schwenkte ohne die geringste Unsicherheit in die Nebengänge ein und schob die Wachen schweigend aus dem Weg. Er hatte nur eine verschwommene Vorstellung davon, was er jetzt tun würde, aber er war sich sicher, daß dies ein erstaunlicher und seltener Zufall war. Er mußte das Gespräch zwischen den beiden Spinnen hören. Nicht umsonst hatte Don Reba für den lebenden Waga vierzehnmal mehr versprochen als für den toten …

Aus den schweren lila Vorhängen traten zwei Graue Leutnants mit entblößten Klingen hervor.

»Seid gegrüßt, Freunde«, sagte Don Rumata und blieb zwischen ihnen stehen. »Ist der Minister auf seinem Zimmer?«

»Der Minister ist beschäftigt, Don Rumata«, sagte einer der beiden Leutnants.

»Ich werde warten«, sagte Rumata und begab sich zwischen die Vorhänge.

Hier war es stockfinster, man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Rumata tastete sich durch Stühle, Tische und schwere gußeiserne Laternenuntersätze. Einige Male hörte er deutlich jemandes Atem über seinem Ohr, und er fühlte sich von starkem Knoblauch- und Biergeruch umhüllt. Dann sah er einen schwachen Lichtstreifen, hörte die vertraute heisere Tenorstimme Waga Kolesos und blieb stehen. Im selben Augenblick preßte sich ihm eine Lanzenspitze vorsichtig, aber unmißverständlich zwischen die Schulterblätter. »Ruhig, Dummkopf!« sagte er gereizt, aber leise. »Ich bin es, Don Rumata!«

Die Lanze zog sich zurück. Rumata schob einen Stuhl zu dem Lichtstreifen hin, setzte sich nieder, schlug ein Bein über und gähnte so laut, daß man es hören mußte. Dann beobachtete er. Die Spinnen waren zusammengetroffen. Don Reba saß in angespannter Pose, stützte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte die Finger. Zu seiner Rechten lag auf einem Stoß Papier ein schweres Wurfmesser mit hölzernem Griff.

Auf dem Gesicht des Ministers lag ein angenehmes, wenn auch etwas starres Lächeln. Der ehrenwerte Waga saß auf dem Sofa mit dem Rücken zu Rumata. Er glich einem wunderlichen alten Magnaten, der die letzten dreißig Jahre seines Lebens völlig abgeschieden auf einem Landsitz zugebracht hatte.

»Die Murgeln sind verkrochnet«, sagte er, »und die Krachstampeln schlurren uns bängs mit aufgequapperten Greumen um die Warrein. Und das sind schon zwanzig lange Zäckerlinge. Krumpf und krässig würde ich denen auf die Schnölle schraben. Aber die Zäckerlinge scharmaunern zunklich. Darauf brimstern wir auch unseren Frunke. Das ist unser Beispall …«

Don Reba umfaßte sein ausrasiertes Kinn.

 »Schwurrebar eingebröhmt«, sagte er nachdenklich. Waga zuckte mit den Schultern.

»Das ist kräpaul unser Beispall. Mit uns zu kruckeln würde ich Ihnen nicht flarren. Also auf Krammscheid?«

»Auf Krammscheid«, sagte der Sicherheitsminister fest entschlossen.

»Und schmacks ab«, sagte Waga und erhob sich. Rumata, der diesem Unsinn verblüfft zugehört hatte, entdeckte in Wagas Gesicht einen buschigen Schnurrbart und einen kleinen grauen Spitzbart. Ein echter Höfling aus der Regierungszeit des vorigen Königs.
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