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Als Rumata am Grab des heiligen Micky – dem siebten und letzten auf dieser Strecke – vorbeikam, war es schon ganz dunkel. Der vielgepriesene Chamacharische Hengst, den er Don Tameo beim Kartenspiel abgewonnen hatte, war in Wirklichkeit ein elender Klepper. Der Schweiß rann dem Tier in Strömen herab, es stolperte in einem fort, und sein unregelmäßiger Trab glich eher den Bewegungen eines schwankenden Schiffs. Rumata drückte ihm die Knie in die Flanken und schlug es mit den Handschuhen zwischen die Ohren. Aber das Pferd nickte nur müde mit dem Kopf, sein Gang wurde nicht schneller. Am Weg standen Büsche, die in der späten Dämmerung wie erstarrte Rauchwolken wirkten. In lästigen Schwärmen schwirrten die Mücken um den Kopf des Reiters. Am düsteren Himmel zitterten einzelne mattgelbe Sterne. In leichten, ungleichmäßigen Stößen blies ein abwechselnd warmer und kalter Wind, wie er an diesem Küstenstreifen mit seinen schwülen, staubigen Tagen und frostigkalten Nächten im Herbst immer anzutreffen ist.

Rumata hüllte sich dichter in seinen Mantel und ließ die Zügel los. Es hatte keinen Sinn, sich zu beeilen. Bis Mitternacht war noch eine ganze Stunde, und der Schluckaufwald trat schon am Horizont als schwarzgezähnter Saum hervor. Links und rechts vom Weg zogen sich unordentlich gepflügte Felder dahin, im fahlen Sternenlicht schimmerten Sümpfe, die nach Verwesung stanken, und hie und da tauchten die schaurigen Silhouetten von Hügeln mit halb vermoderten Pfahlzäunen aus der Zeit der Großen Invasion auf. Ganz in der Ferne züngelte der mürrisch flackernde Schein eines Feuers auf und nieder: Wahrscheinlich brannte dort ein Dorf, eines von den unzähligen gleichförmigen Elendsnestern, die bis vor kurzem Namen getragen hatten wie »Todesweiler«, »Galgenbühl« oder »Räuberschlupf«, auf kaiserlichen Befehl aber umbenannt wurden in »Blumenhain«, »Friedensgrund« und »Engelsdorf«. Über Hunderte von Meilen erstreckte sich dieses Land, von den Ufern der großen Bucht bis zum nichtgeheueren Schluckaufwald. Ein Land, überzogen von lästigen Mückenschwärmen, durchfurcht von Schluchten, halberstickt von Sümpfen, erschüttert von Fieberschauern und ständig bedroht von Seuchen und einer übelriechenden Art von Schnupfen.

An einer Wegkrümmung trat eine dunkle Figur aus den Büschen. Der Hengst fuhr zusammen und riß den Kopf hoch. Rumata ergriff rasch die Zügel, zupfte sich mit einer Handbewegung nach alter Gewohnheit die Spitzen seines rechten Ärmels zurecht und faßte auch schon nach seinem Schwert. Dann sah er genauer hin. Der Mann am Weg nahm seinen Hut ab.

»Guten Abend, edler Don«, sagte er leise. »Ich bitte um Verzeihung.«

»Was ist?« erkundigte sich Rumata. Er horchte angespannt ins Gestrüpp.

Es gibt eigentlich keinen lautlosen Hinterhalt. Die Räuber verrät das Singen ihrer Bogensehnen, die Männer der grauen Miliz rülpsen unaufhaltsam vom schlechten Bier, die Rotten der Barone grunzen vor Gier und rasseln mit den Säbeln, und die Mönche – auf ihrer Jagd nach Sklaven – kratzen sich in einem fort ganz laut. Im Gebüsch aber war es ruhig. Nein, dieser Mensch ist kein Heckenschütze, dachte Rumata. Er sah einem Heckenschützen auch ganz und gar nicht ähnlich: Es war ein kleiner, untersetzter Städter in einem nicht gerade teuren Überwurf.

»Erlaubt Ihr mir, neben Euch herzulaufen?« fragte er den Reiter und verbeugte sich dabei.

»Komm«, sagte Rumata und spielte mit den Zügeln. »Kannst dich am Steigbügel festhalten.«

Der Mann ging neben ihm her. Seinen Hut hielt er in der Hand, und auf seinem Kopf prangte eine ausgewachsene Glatze. Ein Gutsverwalter, dachte Rumata. Besucht Barone und Viehhändler, kauft Flachs und Hanf auf. Jedenfalls ein mutiger Verwalter … Vielleicht aber auch gar kein Verwalter. Vielleicht ein »Bücherwurm«. Ein Flüchtling. Eine gestrandete Existenz. Zur Zeit gibt es viele von dieser Sorte auf den nächtlichen Wegen, mehr als Gutsverwalter … Vielleicht ist er aber ein Spion. »Wer bist du und woher kommst du?« fragte Rumata. »Man nennt mich Kiun«, antwortete mit wehmütiger Stimme der Mann. »Und ich komme aus Arkanar.«

»Du flüchtest aus Arkanar«, sagte Rumata und neigte sich ein wenig zu ihm hinunter. »Ja«, antwortete der Mann traurig.

Irgendein Spinner, ein Sonderling, dachte Rumata. Oder doch ein Spion? Ich werde ihn im Auge behalten … Aber warum ihn eigentlich im Auge behalten? Wem ist schon damit gedient? Wer bin ich denn, daß ich ihn prüfen will? Ich will ihn gar nicht beobachten! Warum soll ich ihm nicht einfach glauben? Kommt ein Mann daher, ganz offensichtlich ein Intellektueller, auf der Flucht, es geht um sein Leben … Er fühlt sich einsam, hat Angst, er ist schwach, sucht eine schützende Hand … Da begegnet ihm ein Aristokrat. Aus Dummheit und Überheblichkeit kennen sich die Aristokraten in der Politik nicht aus, dafür haben sie überlange Säbel, und sie lieben die Grauen nicht. Warum sollte der Bürger Kiun nicht einfach Schutz suchen wollen bei einem dummen und überheblichen Aristokraten? Na also. Ich werde ihn natürlich nicht besonders im Auge behalten. Ich habe auch gar keinen Anlaß dazu. Plaudern wir ein wenig, schlagen wir die Zeit tot, und gehen wir als Freunde auseinander …

»Kiun …«, sagte er laut. »Ich kannte einmal einen Kiun. Quacksalber und Alchimist in der Klempnerstraße. Bist du mit ihm verwandt?«

»O weh, ja«, sagte Kiun. »Ich bin zwar nur ein ganz entfernter Verwandter von ihm, aber denen ist das ja ganz egal … Bis zum zwölften Nachkommen rotten sie unsereins aus.«

»Und wohin willst du flüchten, Kiun?«

»Irgendwohin … Weit weg von hier. Viele gehen nach Irukan. Ich werde es auch in Irukan versuchen.«

»So, so«, sagte Rumata. »Und du hast dir wohl vorgestellt, der edle Don wird dich nun sicher durch den Wachtposten geleiten?« Kiun schwieg.

»Oder, vielleicht denkst du, der edle Don weiß nicht, was der Alchimist von der Klempnerstraße für ein Mensch ist?« Kiun schwieg. Mir scheint, ich rede lauter dummes Zeug, dachte Rumata. Dann aber richtete er sich in den Steigbügeln hoch auf, ahmte mit geblähtem Hals den Ausrufer am Königlichen Platz nach und schrie:

»Angeklagt und schuldig der furchtbarsten, unverzeihlichsten Verbrechen gegen Gott, gegen die Krone und die öffentliche Ruhe.« Kiun schwieg noch immer.

»Und wie, wenn der edle Don etwa Don Reba, den Vater aller Scheußlichkeiten, anbetet und verehrt? Wie, wenn er mit Haut und Haaren der Sache der Grauen ergeben wäre? Oder hältst du das für ausgeschlossen?«

Kiun schwieg weiter. Rechts vom Weg tauchte in der Dunkelheit die schwarze Silhouette eines Galgens auf. Am Querbalken baumelte ein nackter Körper, er war an den Füßen aufgehängt und schimmerte weiß herüber. Ach, dachte Rumata, es kommt ja ohnehin nichts heraus dabei. Er straffte die Zügel, faßte Kiun an der Schulter und drehte ihn mit dem Gesicht zu sich. »Und wie, wenn dich der edle Don jetzt auf der Stelle gleich neben diesen Galgenvogel hängt?« sagte er und blickte in das weiße Gesicht des Mannes mit den dunklen Augenhöhlen. »Ich selbst. Rasch und geschickt. An einer starken arkanarischen Schnur? Im Namen der Ideale? Was schweigst du, Bücherwurm Kiun?« Kiun schwieg.

Er klapperte vor Angst mit den Zähnen und wand sich ganz schwach unter der Hand Rumatas, wie eine gefangene Eidechse. Plötzlich fiel mit einem leichten Klatschen etwas in den Kanal, der sich den Weg entlang hinzog, und sogleich, wie um das Plätschern des Aufschlags zu übertönen, schrie der Mann verzweifelt: »So hängt mich halt auf! Erhängt mich, Verräter!« Rumata stockte der Atem, er ließ Kiun los. »Ich habe nur gescherzt«, sagte er. »Fürchte dich nicht.«

»Lüge, Lüge …«, murmelte Kiun unter Schluchzen. »Überall nur Lügen!«

»Also gut«, sagte Rumata. »Verzeih! Hol jetzt lieber das wieder aus dem Wasser heraus, was du da eben hineingeschmissen hast. Sonst wird es noch ganz naß …«

Kiun rührte sich zunächst nicht von der Stelle, schwankte mit dem Oberkörper unschlüssig hin und her, schluchzte noch immer leise vor sich hin und schlug mit den Handflächen wie sinnlos gegen seinen Überwurf. Dann kroch er in den Kanal. Rumata wartete. Müde wie er war, sank er in seinem Sattel zusammen. Es muß wohl so sein, dachte er, das heißt, anders geht es einfach nicht … Kiun kam aus dem Kanal herausgekrochen, unter seinem Umhang war ein Bündel verborgen.

»Bücher, natürlich«, sagte Rumata. Kiun schüttelte leicht den Kopf. »Nein«, sagte er heiser. »Nur ein Buch. Mein Buch.«

»Was schreibst du?«

»Ich fürchte, es wird Euch nicht interessieren, edler Don.« Rumata runzelte die Stirn und seufzte. »Halt dich am Steigbügel fest«, sagte er, »und komm!« Dann schwiegen sie lange Zeit.

»Hör mal, Kiun«, sagte Rumata. »Ich habe nur gescherzt. Hab keine Angst vor mir.«

»Eine schöne Welt«, brummte Kiun. »Eine lustige Welt. Alle scherzen. Und alle auf die gleiche Weise. Sogar der edle Don Rumata.« Rumata stutzte verwundert. »Du kennst meinen Namen?«

»Ja«, sagte Kiun. »Ich erkannte Euch an dem Reif um die Stirn. Und ich war zuerst auch so froh, gerade Euch auf diesem Weg zu treffen …«

Ah, natürlich, dachte Rumata. Das hatte er also im Sinn, als er mich einen Verräter nannte. Er sagte:

»Siehst du, ich dachte, du bist ein Spion. Und Spione, die bring ich gewöhnlich gleich um.«

»Ein Spion …«, erwiderte Kiun. »Ja, natürlich. Heutzutage ist es ja so einfach und so einträglich, ein Spion zu sein. Unser lichter Adler, der hochedle Don Reba, ist ja sehr besorgt darum, was die Untertanen des Königs sprechen und denken. Ich wollte, ich wäre ein Spion. Ein ordentlicher Kundschafter in der Taverne Zur grauen Freude. Wie gut – und wie ehrsam! Um sechs Uhr gehe ich in die Kneipe und setze mich an meinen Tisch. Gleich kommt der Wirt herbeigeeilt mit meinem ersten Humpen. Trinken kann ich, so viel hinter die Binde geht, das Bier zahlt Don Reba … genauer gesagt, eigentlich zahlt niemand dafür. Ich sitze einfach so da, trinke mein Bier und horche. Manchmal tu ich so, als mache ich Aufzeichnungen über ihre Gespräche, und da kommen auch schon die verschreckten Leutchen an meine Knie gekrochen, um mir ihre Freundschaft und ihren Geldbeutel anzubieten. In ihren Augen sehe ich nur das, was ich schon immer wollte: die Ergebenheit von geprügelten Hunden, ehrfürchtige Angst und hinreißend kraftlosen Haß. Ich kann jederzeit jedes Mädchen haben, die Frauen winden sich in meinen Umarmungen vor den Augen ihrer Gatten, gesunder und kräftiger Männer, die dazu nur unterwürfig kichern … Herrliche Aussichten, edler Don, nicht wahr? Ich habe mir das alles von einem fünfzehnjährigen Bürschchen sagen lassen, einem Zögling der Patriotischen Schule …«

»Und was hast du ihm geantwortet?« Die Erzählung des Flüchtlings hatte Rumatas Neugierde erweckt.

»Was sollte ich ihm antworten? Er hätte es ja doch nicht verstanden. So erzählte ich ihm, daß die Männer des Räuberhauptmanns Waga Koleso einem Spion, wenn sie ihn erwischten, den Bauch aufschnitten und seine Eingeweide mit Pfeffer füllten … Betrunkene Soldaten wieder steckten den Spion in einen Sack und ertränkten ihn im Dorfteich. Und es ist überdies die reinste Wahrheit, aber er glaubte mir nicht. Er sagte, in der Schule hätten sie das nicht durchgenommen. Dann nahm ich ein Blatt Papier und begann unser Gespräch aufzuschreiben. Ich brauchte es damals für mein Buch, aber er, der Ärmste, glaubte, für eine Denunziation … und wurde plötzlich ganz naß vor Angstschweiß …«
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