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»Ja … In die Hauptstadt. Zu mir.«

»Ist es dort schön?«

»Dort ist es wunderschön. Dort weint nie ein Mensch.«

»Das gibt es nicht.«

»Ja, natürlich. Das gibt es nicht. Aber du wirst dort nie weinen.«

»Und wie sind die Menschen dort?«

»Wie ich.«

»Alle?«

»Nicht alle. Es gibt auch noch viel bessere.«

»Das kann nicht sein!«

»Du wirst schon sehen!«

»Warum kann man dir so leicht glauben? Mein Vater glaubt überhaupt niemandem. Mein Bruder sagt, daß alle Menschen Schweine sind, nur sind die einen schmutzig und die andern nicht. Doch ihnen glaube ich nicht, dir aber glaube ich immer …«

»Ich liebe dich …«

»Warte … Rumata … Nimm den Reif ab … du sagtest, das sei Sünde …«

Rumatas Gesicht überzog ein glückliches Lächeln. Er streifte den Reif von seinem Kopf, legte ihn auf den Tisch und bedeckte ihn mit einem Buch.

»Das ist das Auge des Gottes«, sagte er. »Es kann sich jetzt ruhig schließen …«

Er nahm sie in die Arme.

»Es ist sogar sehr sündhaft. Aber wenn ich mit dir bin, brauche ich keinen Gott, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie leise.

Als sie sich zu Tisch setzten, war der Braten kalt, der Wein aus dem Kühlkeller aber warm geworden. Der Knabe Uno kam herein und ging, unhörbar, wie es ihn der alte Muga gelehrt hatte, die Wand entlang, um die Kerzen in den Leuchtern anzuzünden, obwohl es noch hell war.

»Ist das dein Sklave?« fragte Kyra.

»Nein, er ist frei. Ein prächtiger Junge, nur sehr, sehr geizig.«

»Gold liebt seine Ordnung«, sagte Uno, ohne sich umzuwenden. »Und so hast du wohl auch noch keine neuen Leintücher gekauft?« fragte Rumata.

»Wozu?« sagte der Knabe. »Die alten taugen noch lange …«

»Hör mal, Uno«, sagte Rumata. »Ich kann nicht den ganzen Monat lang auf ein und demselben Leintuch schlafen.«

»A-ha!« sagte der Knabe. »Seine Königliche Hoheit schlafen ein halbes Jahr darauf und beschweren sich nicht …«

»Na und das Öl?« sagte Rumata und zwinkerte Kyra zu. »Das Öl in den Leuchtern? Hast du das vielleicht gratis bekommen?« Uno hielt ein.

»Aber Sie haben doch einen Gast«, sagte er endlich mit fest entschlossener Stimme. »Siehst du, wie er ist!« sagte Rumata.

»Er ist ein guter Kerl«, sagte Kyra ernst. »Er hat dich gern. Nehmen wir ihn doch mit.«

»Wir werden sehen«, sagte Rumata.

Der Knabe runzelte argwöhnisch die Stirn und sagte: »Wohin soll das gehen? Ich fahr nicht weg von hier.«

»Wir gehen dorthin, wo alle Menschen so sind wie Rumata.« Der Knabe überlegte kurz und sagte dann verächtlich: »Ins Paradies, wie, für die Edlen …?«

Dann prustete er wie ein nasses Pferd und machte sich schlurfend auf seinen zerschlissenen Pantoffeln aus dem Herrenzimmer davon. Kyra schaute ihm nach.

»Ein prächtiger Junge«, sagte sie. »Mürrisch wie ein kleiner Bär. Aber ein guter Freund für dich.«

»Alle meine Freunde sind gute Menschen.«

»Und Baron Pampa?«

»Woher kennst du ihn?« wunderte sich Rumata. »Du erzählst doch von niemand anderem. Ich höre von dir immer nur: Baron Pampa, Baron Pampa.«

»Baron Pampa ist ein wertvoller Genosse.«

»Was soll denn das: Der Baron – ein Genosse

» Ich wollte sagen, ein guter Mensch. Sehr gutmütig und fröhlich. Und er liebt seine Frau über alles.«

»Ich möchte ihn kennenlernen … Oder hast du Bedenken wegen mir?«

»N-n-ein. Ich hab keine Bedenken. Aber wenn er auch ein guter Mensch ist, so bleibt er doch ein Baron.«

»Aber …«, sagte sie. Rumata schob den Teller von sich.

»Jetzt sag mir, warum du geweint hast. Und warum du allein hergelaufen bist. Oder läuft man in solchen Zeiten allein auf der Straße herum?«

»Ich konnte es nicht mehr ertragen zu Hause. Ich gehe auch nicht mehr zurück. Wenn du willst, werde ich bei dir als Dienstmädchen arbeiten. Umsonst.«

Rumata fühlte beim Lächeln deutlich einen Klumpen in der Kehle. »Der Vater schreibt jeden Tag Denunziationen um«, fuhr sie mit leiser Verzweiflung in der Stimme fort, »und die Papiere, von denen er abschreibt, sind voll Blut. Man gibt sie ihm im Turm der Fröhlichkeit. Ach, warum hast du mich bloß lesen gelehrt?! Jeden Abend, jeden Abend … Er schreibt die Aufzeichnungen von den Verhören um – und trinkt … So schrecklich, so schrecklich …! Schau her, sagt er, Kyra. Unser Nachbar, der Kalligraph, lehrte die Leute lesen und schreiben. Was glaubst du, wer er in Wirklichkeit ist? In der Folterkammer gestand er: ein Zauberer und irukanischer Spion. – Und wem, sagt er, wem soll man jetzt glauben? Ich, sagt er, ich hab doch selber bei ihm schreiben gelernt. Und der Bruder kommt von der Patrouille – mit einem Bierrausch, an seinen Händen eingetrocknetes Blut … Alle, sagt er, alle rotten wir aus, bis in die zwölfte Generation … Den Vater belästigt er in einem fort und fragt ihn, warum er lesen und schreiben kann … Zusammen mit Freunden, wie er sagt, zerrte er heute einen Mann ins Haus … Geschlagen haben sie ihn, daß sie alle mit Blut bespritzt waren. Er hat dann zu schreien aufgehört. – Ich kann so nicht mehr weiter, ich gehe nicht mehr zurück, lieber schlag mich tot …« Rumata stand neben ihr, und seine Hand glitt leicht über ihr Haar. Ihre glänzenden trockenen Augen waren auf einen Punkt gerichtet. Was konnte er ihr sagen? Er nahm sie in die Arme, trug sie auf den Diwan, setzte sich neben sie und begann zu erzählen. Er erzählte von kristallenen Tempeln, von heiteren Gärten, die sich über viele Meilen dahinzogen – dort gab es keinen Unrat, Mückenschwärme oder Schmutz. Er erzählte vom Tisch, der sich selber deckt, und vom fliegenden Teppich, von der bezaubernden Stadt Leningrad, von seinen Freunden – stolzen, frohen und guten Menschen, und von einem wundervollen Land hinter den Meeren, hinter den sieben Bergen, das man »Erde« nennt … Sie hörte ruhig und aufmerksam zu und drückte sich nur enger an ihn, als unter den Fenstern auf der Straße – grrrumm, grrrumm, grrrumm – der harte Klang von beschlagenen Stiefeln erschallte. Kyra besaß einen ganz wundervollen Charakterzug. Sie glaubte bedingungslos an das Gute. Erzählte er dieselbe Geschichte einem leibeigenen Bauern, würde der ein ungläubiges, dummes Gesicht schneiden, sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase wischen und ihn, ohne ein Wort zu sagen, wie ein seltenes Fabeltier anstarren. Ihn, den guten, gescheiten, edlen Don, den bloß – welch ein Unglück! – der Verstand ein wenig im Stich gelassen hatte. Erzähle einer so etwas Don Tameo oder Don Sera – sie würden gar nicht bis zu Ende zuhören: Der eine schliefe unfehlbar ein, und der andere sagte rülpsend: »Das ist ja alles sehr ehrenwert … Aber wie ist es dort mit den Weibern?« Don Reba aber würde bis zum Schluß aufmerksam lauschen und dann seinen Bluthunden, den Sturmowiki, einen leisen Wink geben, sie sollten dem edlen Don die Ellbogen bis zu den Schulterblättern verdrehen und ganz genau herausbekommen, woher der edle Don solche Märchen erfahren und wem er sie schon weitererzählt habe …

Als Kyra eingeschlafen war und sich ein wenig beruhigt hatte, küßte er sie sacht auf das friedlich schlummernde Gesicht, deckte sie mit einem Pelzmantel zu, verließ das Zimmer auf Zehenspitzen und verschloß leise hinter sich die widerlich knarrende Tür. Er ging durch das dunkle Haus ins Dienstbotenzimmer hinunter, blickte über die zum Gruß gebeugten Köpfe und sagte: »Ich habe mir eine Wirtschafterin genommen. Ihr Name ist Kyra. Wohnen wird sie oben, bei mir. Das Zimmer neben dem Herrenzimmer wird morgen sorgfältig aufgeräumt. Der Wirtschafterin ist zu gehorchen wie mir!« Er streifte die Bediensteten mit einem raschen Blick, ob nicht etwa einer grinse. Keiner verzog eine Miene, sie hörten ihm mit der gebührenden Ehrerbietigkeit zu. »Und wenn es jemandem einfallen sollte, hinter meinem Rücken zu tuscheln, so reiße ich ihm die Zunge heraus!«

Nachdem er ausgeredet hatte, blieb er noch eine Weile stehen, um seine Worte auf sie einwirken zu lassen, dann wandte er sich um und ging wieder hinauf in sein Zimmer. Die Wände des Salons waren über und über mit rostigen, alten Waffen behängt, und es standen da seltsame, von unzähligen Insekten bekleckste Möbel. Er ging zum Fenster, drückte seine Stirn an das dunkle, kalte Glas und schaute auf die Straße hinunter. Man schlug gerade zur ersten Wache. In den Fenstern gegenüber zündeten sie die Leuchten an und schlossen die Läden, um nicht die bösen Menschen und bösen Geister anzulocken. Es war ganz still, nur einmal brüllte mit schrecklicher Stimme ein Betrunkener laut auf – entweder bestahl man ihn, oder er torkelte gegen fremde Türen.
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